Die Abiturrede für uns von Herrn Schwarze

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Ich habe die Rede, die uns unser Beratungslehrer Karl-Heinz Schwarze gehalten hat, in der Festschrift zum 25jährigen Schuljubiläum wiedergefunden. Die Rede ist meiner Empfindung nach noch immer aktuell und von großer Wärme geprägt, so dass ich sie auf diese Seite bringen möchte.

(Hervorhebungen und Unterteilungen sind auf meinem Mist gewachsen!)

 

Die Abiturrede von Karl-Heinz Schwarze

Abiturjahrgang 1983

Liebe Abiturienten! Sehr verehrte Eltern, sehr verehrte Gäste, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Kurt Tucholsky schreibt in seinen Ratschlägen für einen schlechten Redner:

Wenn einer spricht, müssen die anderen zuhören – das ist Deine Gelegenheit. Mißbrauche sie!“.

Dieser Rat ist satirisch gemeint; deshalb habe ich mir die Frage gestellt, durch welche Art Rede kannst Du die Abiturienten und die übrigen Zuhörer am partnergerechtesten mit einbeziehen? Ich habe von zahlreichen einer Rede drei ausgewählt und auf die partnergerechte Wirksamkeit hin überprüft.


Da wäre zunächst die pädagogische Rede.

Jeder Lehrer, der sich selbst noch ernst nimmt – so wäre etwa eine logische Voraussetzung – lebt in dem Bewußtsein, in seinen Schülern die Elite der nächsten Generation in Wissenschaft und Politik heranzuziehen. Also wäre der appellative Tenor einer solchen Rede etwa: liebe Abiturienten, bewahrt Euch die Fähigkeit, Eure eigene Identität zu entwickeln und sozial verantwortlich zu handeln, und zwar in der „Auseinandersetzung mit historischen Bedingungen, gegenwärtigen Problemen und zukünftigen Aufgaben“ (so etwa der Kultusminister NRW in den RICHTLINIEN, 1982).

Als ich mir Ihre Reaktion vorstellte (ein ironisch-distanziertes Lächeln), sind mir die ersten Zweifel gekommen über diese Art zu reden. In einer solchen Abschiedsrede wäre es ja auch viel zu spät, solche Vorstellungen zu realisieren. Die Schule würde ihr Versagen eingestehen. Die Zweifel verstärkten sich bei der Lektüre von Bewertungen und Berichten über die heutige Jugend, die die Erfolglosigkeit solcher Ziele signalisierten. Immer mehr Jugendliche würden gleichgültig. Wenn überhaupt spielten sie nur gelangweilt in Gesellschaft, in Schule und Hochschule oder Elternhaus die formalen Rituale so eben mit. Aber es scheine so, als bedeute ihnen dies alles kaum mehr etwas. Blieben somit Selbständigkeit und soziale Verantwortung nur utopische Ziele? Der Streit verschiedenster pädagogischer Richtungen um die richtige Art der Erziehung scheint diese Zweifel zu rechtfertigen.


Also mußte ich es zunächst erst einmal mit einer kulturträchtigen Rede versuchen, so folgerte ich. Die Voraussetzung lautete: eine hoch zivilisierte Nation kommt ohne eine Kulturtradition, die von Generation zu Generation weiter vermittelt wird, nicht aus, um die immer neu anstehenden Probleme lösen zu können. Der Stil der Rede entspräche etwa einem sorgfältig verschnürten Zitatenpäckchen mit Bildungsfracht; angefangen bei Aristoteles: „Ich sage Dir, habe den Mut, Dinge zu ändern, die Du zu ändern vermagst, die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die Du nicht ändern kannst, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Über Goethe: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, bis zu Bertolt Brecht: „Wenn die Irrtümer verbraucht sind, sitzt als letzter Gesellschafter uns das Nichts gegenüber“.

Schon in der leicht ironischen Reihung habe ich meine Zweifel ausgedrückt, daß diese Art von Rede Sie hier heute entflammen könnte. Weitere Gründe für eine berechtigte Skepsis wären die Berichte über das Scheitern der Oberstufenreform. In der Differenzierten Oberstufe leisteten die Schüler weniger, die Grundbildung gehe zuschanden, elementare Kenntnisse fehlten, Desorientierung sei das Zeichen der Zeit (so etwa Andreas Flitner oder Clemens Christians).

Den wichtigsten Grund, der meine große Skepsis bezüglich der Wirksamkeit kulturträchtiger Appelle nährt, möchte ich am Beispiel einer anderen Abiturrede verdeutlichen. Diese Abiturrede wurde 1929 von dem Dichter und Studienrat in Königsberg, Ernst Wiechert, gehalten, eine Rede von hohem moralischen und ethischen Pathos, voller kulturträchtiger Ideale. Was mich bei der Lektüre so betroffen gemacht hat: diese Rede – und sicher viele dieser Art in den Jahren 1929 bis 1932 – haben die Katastrophe des Nationalsozialismus nicht verhindern können.


An dieser Stelle meiner Überlegungen habe ich gedacht: es müßte eine politische Rede werden. Die logische Voraussetzung wäre: ein Teil der Menschheit – ich meine den pessimistischeren Teil, es soll ja auch noch grenzenlose Optimisten geben – ein Teil der Menschheit also lebt heute in der Angst vor der selbstgemachten Katastrophe, offen nur die Frage, ob denn die Umweltzerstörung oder ein durch einen Fehler im Vorwarnsystem ausgelöster Atomkrieg die Welt unbewohnbar machen wird. Der Tenor einer solchen politischen Rede verlangte, Ihnen Ihre Verantwortung für die Zukunft der Welt zu verdeutlichen.

Schon der nicht gerade bescheidene Anspruch dieser Forderung ließ mich zweifeln. Ein Anspruch, der völlig unrealistisch wirkt angesichts der Frage, ob denn der Mensch schon je aus den Kriegen und Katastrophen der Geschichte gelernt habe. Und dieser Anspruch im Anblick einer Jugend, von der es in einem Bericht des SPIEGELS heißt: die heutigen Schüler seien resignativ, lethargisch, desinteressiert, unengagiert. Der „Aussteiger“ sei das Leitbild der Jugend in unserer Zeit.


An dieser Stelle habe ich es aufgegeben, nach einer passenden Redeart zu suchen; denn angesichts dieser pessimistischen Vorstellungen und Visionen in all den drei Bereichen packte mich der Schreck. Doch bei genauerem Hinsehen konnte ich aufatmen; denn all die negativen, bzw. pessimistischen Einschätzungen treffen ja gar nicht zu, so stellte ich fest, als ich obige negativen Überlegungen maß an der Realität unserer dreijährigen Zusammenarbeit. So ist es ja gar nicht mit Ihnen gewesen!

Im Unterricht, auf Studienfahrten und auch teils bei organisatorischen Fragen habe ich festgestellt, daß es gar nicht schwer ist, Sie zu engagieren, zu interessieren. Und wo immer ich es beobachten konnte, entdeckte ich Hilfsbereitschaft und soziale Verantwortung.

Und das Vorurteil bezüglich fehlender Allgemeinbildung ist mir gründlich ausgetrieben worden. Als ich mit einer Gruppe von Schülern aus dem Leistungskurs Geschichte im Rheinischen Landesmuseum in Bonn vor der Büste des römischen Kaisers Elagabalus stand und angesichts des exotischen Namens mein Nichtwissen mit der Äußerung „Wer kennt denn den schon?“ kaschieren wollte, reagierte ein Schüler und jetziger Abiturient aus Ihren Reihen: „Das ist doch der untergeschobene Sohn Caracallas, der im Jahre 218 nach Christus als Sonnenpriester den syrischen Baalskult offiziell als Staatsreligion einführte.“

In dem Rückblick auf unsere dreijährige Zusammenarbeit ist mir überhaupt nichts Negatives, vielmehr nur Positives eingefallen. Diese Zusammenarbeit hat mir Spaß gemacht, und auch Sie haben ja hin und wieder mit mir Ihre Späße gemacht, und – wie man es so hören konnte, auch mit den übrigen Lehrern. Kurz, es war eine ausgesprochen angenehme Tätigkeit, der Beratungslehrer dieser Jahrgangsstufe zu sein.

Am stärksten aber, gerade im Kontrast zu meinem tendenziell revolutionärem Weltverbesserungsbedürfnis, hat mich Ihre Gelassenheit beeindruckt, mit der Sie die täglichen Ungerechtigkeiten des Schulalltags verarbeitet haben.

Ideale und Realität stehen also bei mir, wie Sie sehen, in einem deutlichen Zwiespalt. Meine Skepsis, meine Zweifel, mein Anflug von Pessimismus sind die Folge eines frustrierten Weltverbesserungsbedürfnisses, doch sie bedeuten keineswegs Resignation. Eher das Gegenteil ist der Fall. Ich glaube, daß der Pädagoge in einer Welt voller Gefahren, Probleme und Schwierigkeiten nicht die Aufgabe hat, ein Paradies vorzugaukeln, sondern die Vorstellung vermitteln muß, daß wir in einer Welt leben, in der die Gerechtigkeit auf schwachen Füßen steht, in der der zivilisatorische Prozeß die Existenz der Erde unterhöhlt, in der der Friede zerbrechlich ist, in der die Freiheit immer gefährdet ist und verteidigt werden muß.

Das hohe Pathos eines Ernst Wiechert und seiner Generation, die hohen Weltverbesserungsideale, haben die Gefahren der damaligen Zeit nicht bewältigen können. Vielleicht ist Ihre Gelassenheit, mit Spaß und Freude gepaart, ein wirkungsvolleres Mittel zur Problembewältigung für die heute anstehenden Probleme.

Zur Verdeutlichlung und Verstärkung dieses Gedankens diesmal ein ernstgemeintes Zitat, und zwar von dem Physiker und idealistischen Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg 1791 verfaßt: „Ich weiß zwar nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber soviel ist gewiß, daß es anders werden muß, wenn es gut werden soll!“ Der Fortschrittsglaube der Aufklärung ist dahin. Für die gewaltige Aufgabe, die jeder Generation aus diesem Zitat zukommt, sehe ich eine große Gefahr, nämlich die der unpolitischen Haltung, der Pantoffelmentalität, der Radfahrer- und Duckmäusermentalität; denn die Gesellschaft unserer Gegenwart braucht Wissenschaftler, die nicht Diener von Profitinteressen sind, braucht Ärzte, die nicht um höhere Honorare feilschen und die die Fähigkeit besitzen, einen Gefälligkeitskrankenschein zu verweigern, braucht Beamte, die nicht buckeln, braucht Journalisten, die Zivilcourage und soziales Engagement zeigen, und sie ist in der Nutzung der Atomenergie und in Fragen des Umweltschutzes auf solide technische Gutachter angewiesen, die nicht käuflich sind, und sie bedarf schließlich der Lehrer, die nicht optimistische Illusionen und Ideologien verstärken, sondern die Auffassung vertreten, daß einer umso nutzloser für die heutige Gesellschaft ist, je angepaßter und widerstandsloser er funktioniert.

Und so gebe ich Ihnen zum Schluß doch noch moralische Appelle auf den sogenannten Lebensweg mit, ganz vorsichtig als Hoffnungen und Wünsche verpackt: Ich erwarte nicht, daß Sie als Elite der zukünftigen Generation die Welt in revolutionärem Schwung verbessern können, aber ich hoffe, daß Sie Selbstbewußtsein, soziales Engagement, Mut und Zivilcourage in dem gerade aufgezeigten Sinne zeigen. Ich hoffe, daß Sie sich Ihre Gelassenheit bewahren, und wünsche Ihnen, daß sich in der Folge dieser „Tugenden“ die psychischen Gewinne einstellen, die damit wie von selbst verbunden sind, nämlich der Spaß an kritischer und toleranter Auseinandersetzung und die Freude über ein erhöhtes Selbstwertgefühl beim Erfolg.

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